249.
Scar. – Das 20.Jahrhundert ist wie kaum eine andere Zeit wesentlich vom Krieg bestimmt. Obgleich das Wort „Krieg“ jeder umstandslos zu verstehen scheint, muß zur Vermeidung von Ideologie ins Gedächtnis gerufen werden, was Krieg ist: das organisierte Töten zwischen Menschen, die meinen, einer Gruppe von Personen – genannt Staat – mehr Gehorsam zu schulden als dem Gewissen, der Moral und dem mitmenschlichen Gefühl, ohne Rücksicht auf das einfache Faktum, daß jene, die sie töten, ihnen persönlich weder etwas Böses getan haben noch tun wollen.
250.
„Repressive Entstaatlichung. – Gehorsam erreicht der Staat, indem er natürliche Gruppenidentitäten wie „Nation“, „Rasse“, „Kultur“ okkupiert, um das Interesse abzulenken, das Gewissen zu beruhigen und jede wahre Identifikation der Menschen mit sich und ihrer Gemeinschaft zu verhindern.
Der Staat strebt Hegemonie über das Bewußtsein an. Dazu bedient er sich der Sehnsucht, ihm zu entkommen. Die kroatischen Kämpferinnen, die an Grausamkeit nicht hinter ihren männlichen Mitstreitern und den serbischen und bosnischen Widersachern zurückstehen, sind sich darüber im klaren, daß sie im Falle des Friedens heimkehren werden in eine patriarchalische Gesellschaft, die ihnen die im Kampf gewonnene Autonomie und das Selbstvertrauen wieder nehmen wird. Die kämpfen für das, was sie verabscheuen. Sie fürchten den Sieg, den herbeizuführen sie helfen. (Cf. Herbert Marcuses Begriff der „repressiven Entsublimierung“).
251.
Der siegreiche Staat schreibt nach dem Krieg die Geschichte, stellt dar, daß er selbst recht gehandelt habe und daß das gegnerische Land befreit worden sei vom Bösen. Über Jahrhunderte hinweg blieb die Historiographie die Chronik von Siegern.
Daß heute Historiographie nicht mehr immer nur Hofberichterstattung ist, haben wir einer Gruppe von mutigen Historikern zu verdanken, etwa Harry E. Barnes. Sie erschütterten nach dem ersten Weltkrieg die Behauptung der Sieger, Deutschland allein müsse die Schuld auf sich nehmen. Die genaue Rekonstruktion dessen, was über die Tatsachen des Kriegsausbruchs und seiner Vorgeschichte zu wissen ist, verbanden sie mit der allgemeinen These, daß Konflikte selten nur von einer Seite ausgehen. Diese Gruppe wurde als „revisionist historicans“ bezeichnet und bezeichnete sich dann auch selbst so. Was den ersten Weltkrieg angeht, hat diese Interpretation als vernünftig sich herausgestellt. Von einer Alleinschuld des deutschen Staates am ersten Weltkrieg spricht heute kaum noch ein Geisteswissenschaftler. Vielmehr läßt sich erkennen, daß alle wesentlich am ersten Weltkrieg beteiligten Nationen imperialistische Ziele verfolgten, die sie schließlich nur durch Krieg gegen die Konkurrenz verwirklichen zu können meinten. Dabei herrschte in Deutschland ein rückständiger – und darum objektiv schwacher – national-chauvinistischer Militarismus, der sich dem aufgeklärten Geist als besonders verachtenswert preisgab, während die Alliierten fortgeschrittenere subtilere Methoden im Gewande demokratischer Entscheidungsprozesse anwandten. Unerschrockene Historiker wie Barnes trugen mit ihrem Revisionismus einiges dazu bei, die moderne Demokratie als imperialismus- und kriegsfähiges Herrschaftssystem zu identifizieren.
252.
4. July. – Vor dem zweiten Weltkrieg versuchten Revisionisten, den sich abzeichnenden Eintritt der USA in den zweiten Weltkrieg abzuwenden. Neben Barnes ist in diesem Zusammenhang besonders Charles Beard zu nennen, der sich durch seinen Kampf gegen den Krieg und durch die Lektüre von Rudolf Rockers „Nationalismus und Kultur“ (1937) von einem Roosevelt-Etatisten zu einem konservativen Anarchisten wandelte. Bis zu Pearl Harbor repräsentierten die Revisionisten eine Mehrheit des amerikanischen Volkes. Politisch wurden sie als „Isolationisten“ bezeichnet. Sie hielten an der revolutionären Maxime Jeffersons fest, Amerika solle mit allen Völkern Handel treiben und mit keinem Staat eine Allianz eingehen. Die Isolationisten modernisierten diese Maxime zu der Formel, die USA dürften sich nicht als Weltpolizist aufspielen, sondern sollten nur zur Verteidigung gegen Bedrohung des eigenen Territoriums militärisch sich rüsten. Dem „America First Committee“, das dieser Formel politische Wirksamkeit zu verschaffen suchte, gehörten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, Geschäftsleute, Politiker, Schauspieler, Historiker an. Er vereinigte ein breites politisches Spektrum, das von Konservativen über Liberale, Sozialisten und Kommunisten bis zu Anarchisten reichte.
253.
Die Kunst des Möglichen. – Mit dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor 1941 änderte sich die öffentliche Meinung schlagartig. Die Gegner der Isolationisten, die „Internationalisten“ Roosevelts, erlangten eine größere Zustimmung im Volk. (1940 hatte Roosevelt die Wahl nur gewinnen können, indem er der isolationistischen Politik scheinbar entgegenkam.) Revisionistische Historiker machten sich daraufhin ans Werk, um diesen Vorfall kritisch zu untersuchen. Bereits im Krieg fanden sie starke Hinweise, daß Pearl Harbor kein echter Überraschungsangriff war. Zum einen setzte die US-Regierung alles daran, den japanischen Staat zu einem Erstschlag zu reizen, zum anderen wußte sie Wochen vor dem Angriff Ort und Zeit. Der amerikanische Staat hat bewußt Tausende von amerikanischen Soldaten einem Angriff ausgesetzt, um die Bevölkerung für militärische Aktivitäten außerhalb des Territoriums der USA bereit zu machen.
254.
Spellbound. – Die revisionistische Kritik an Roosevelts Politik war keine Relativierung des japanischen Kriegsverbrechens. Die japanische Regierung hat den Überraschungsangriff beabsichtigt. Jene Kritik war auch keine Unterstützung des Kriegsgegners und schon gar keine Parteinahme für den Faschismus. Sie bezog ihren Maßstab aus der amerikanischen Tradition des Liberalismus. Und so lautete denn der revisionistische Vorwurf im Kern, daß die USA sich unter der Führung der nationalistischen und kollektivistischen Internationalisten zu einem Staat entwickeln würden, der seinen faschistischen Gegnern näher als dem eigenen liberalen Erbe stehe. „As we go marching“ nannte John T. Flynn seine Analyse von 1943 und meinte damit: Indem wir gegen den Faschismus ziehen, verwandeln wir uns selbst in Faschisten. Für wie selbstverständlich die Revisionisten trotz aller Kritik die Existenz einer liberalen Demokratie annahmen, ist an der Empörung abzulesen, mit der Beard reagierte, als nach dem zweiten Weltkrieg seine wissenschaftlichen Untersuchungen anders als nach dem ersten Weltkrieg nicht nur nicht begrüßt, sondern von offizieller Seite auch zu behindern versucht wurden.
255.
„Not to be swift“ (Justus D. Doeneke). – Die amerikanischen Revisionisten haben sich auch mit der europäischen Siegerhistoriographie des zweiten Weltkriegs nicht abgefunden. Ihre Analyse sah, vereinfacht ausgedrückt, in Europa drei gleichermaßen verachtenswerte Parteien am Werk. Mit keiner von ihnen sei es moralisch oder strategisch ratsam, zu koalieren. Sollten die Bösewichter sich doch gegenseitig umbringen! Die eine Partei bildeten England und Frankreich, die zwar eine einigermaßen funktionierende innere Demokratie aufwiesen, als Kolonialmächte jedoch eine unmenschliche Politik betrieben, die ein freies Land nicht unterstützen durfte. Die zwei anderen Parteien bildeten die Achsenmächte und die UdSSR, Nationen, die von blutigen Diktatoren regiert wurden ohne Respekt vor Freiheit, Eigentum und Frieden, Diktatoren, die andersrassische, andersgläubige und anderslebende Menschen, Juden, Zigeuner, Homosexuelle, Pazifisten, Oppositionelle, Jehovas Zeugen, Asoziale, abtreibende Frauen, Behinderte einsperrten, ausbeuteten und ermordeten und den Rest des verschüchterten Volkes ihren eigenen verbrecherischen Absichten unterwarfen.
Die US-Hilfe für Stalin (der übrigens nicht weniger Antisemit war als Hitler) sahen die Revisionisten als verheerend an. Für sie gab es keine moralische oder strategische Rechtfertigung dieser Zusammenarbeit mit dem einen Verbrecher, um einen anderen, kaum schlimmeren Verbrecher zu besiegen. Ihrer Meinung nach war die Koalition mit Stalin Teil des Versuchs von Roosevelt, Amerika zu bolschewisieren oder zu faschisieren, d.h. das liberale Gefüge durch einen kollektivistischen Staat zu ersetzen. Einige Revisionisten meinten Ende der 40er Jahre gar, sich an McCarthys anti-kommunistischen Säuberungen beteiligen zu sollen: Sie hofften, so die wahren, in der Regierung sitzenden „Kommunisten“ beseitigen zu können. Es ging ihnen nicht darum, irgendwelche diffus linken Intellektuellen und Schauspieler zu verfolgen, mit denen sie ja in den 30er Jahren zusammen gegen den Kriegseintritt gefochten hatten. Die Illusion verflog, als sich McCarthy offen den Internationalisten – die eigentlich als „nationale Chauvinisten“ bezeichnet werden müßten – anschloß, indem er den Korea-Krieg (1950-1953) unterstützt. Wiederum waren wahrscheinlich bis zu zwei Drittel des amerikanischen Volkes gegen die Kriegsbeteiligung.
256.
Vergiftung. – Als am Ende des zweiten Weltkriegs und dann besonders nach dem Krieg sowohl die stalinistischen Greueltaten nicht mehr verheimlicht werden konnten, als auch Stalins Imperialismus unübersehbar wurde, geriet die offizielle amerikanische Kriegsrechtfertigung unter Druck. Einen zusätzlichen Rechtfertigungsdruck erzeugte der wachsende Abscheu der Völker vor der Bombardierung der deutschen Zivilbevölkerung durch die Alliierten. Manche Revisionisten formulierten daraufhin den Verdacht, daß zur Ausfüllung der so entstandenen Lücke in der Kriegsrechtfertigung eine Legende geboren worden sei, der Holocaust. Mit der „Legende“ vom Holocaust sollte – ihrer Meinung nach – belegt werden, der Nationalsozialismus sei noch brutaler, noch unmenschlicher, noch irrationaler als der Stalinismus, und darum hätte man legitimerweise mit Stalin gegen Hitler paktieren müssen.
Dieser Verdacht muß auf dem Hintergrund verstanden werden, daß die US-Regierungen im Krieg und nach dem Krieg die Bevölkerung fortwährend belogen und Menschen im In- und Ausland in großangelegte, an den Faschismus erinnernde Menschenexperimente mit Radioaktivität und Giftgas einbezogen haben.
257.
„Historical Blackout“ (Harry E. Barnes). – Wenn Historiographie nicht der Siegergeschichte verpflichtet wäre, müßte der Verdacht einiger Revisionisten, der Holocaust habe in der behaupteten Form nicht stattgefunden, zu einer sachlichen Auseinandersetzung mit Fakten und Argumenten werden. Die Frage müßte lauten, wer die überzeugendere Interpretation vorlegt. Das geschieht jedoch meist nicht. Die Holocaust- und Kriegsschuldfrage werden radikal tabuisiert. Sie anders als standardmäßig zu behandeln, ist ein Sakrileg. Wer es begeht, wird Opfer sowohl von sozialer Ausgrenzung als auch bisweilen von staatlicher Verfolgung. Wie ist es möglich, daß in Ländern mit relativ freier Presse die Tabuisierung des zweiten Weltkriegs funktioniert?
Vereinzelte Repression und Vorenthaltung von Dokumenten sind keine dauerhaften Garanten der Tabuisierung. Es gibt jedoch einen wirkungsvollen sozialtechnisch gesteuerten moralischen Druck. Allein die Vorstellung, daß Menschen den Holocaust betrieben und duldeten, ist so erschütternd, daß das Hinterfragen von Details wie die Ausmessung auch der kriegspropagandistischen Dimension im Umgang mit dem Holocaust schon als Rechtfertigung des Nationalsozialismus angesehen wird.
Der Nationalsozialismus wird, um gegen seine dämonische Anziehungskraft immun zu machen, mit dem Tun des Undenkbaren identifiziert. Nimmt man „es“ weg, fällt es den heimlichen Faschisten schwer, den Nationalsozialismus überhaupt noch abzulehnen. Daher die Rede, der Revisionismus mache den Nationalsozialismus „wieder hoffähig“. Da dies aber nicht sein darf, müssen jene verfolgt werden, die den Holocaust in Frage stellen. Dagegen ist festzuhalten, daß es den unmenschlichen Charakter des Nationalsozialismus nicht mindert, selbst wenn eine geringere Zahl von Opfern und eine andere Art der Ermordung als historisch korrekt sich erweisen – nicht seine nationalistisch-rassistische Borniertheit, nicht seine ausbeuterische keynesianische Kriegswirtschaft, die einen kurzen Boom hervorbrachte, von manchem heute noch als Wirtschaftswunder gefeiert.
Wer den Holocaust braucht, um den Nationalsozialismus als Unrecht abzulehnen, muß in tiefstem Herzen Faschist sein: Die kollektivistische Ideologie ist ihm so weit in Fleisch und Blut übergegangen, daß er als Differenz zwischen Recht und Faschismus nur noch die gigantische Zahl der Opfer sieht.
258.
Lügen haben lange Ohren. – Hilfloser Antifaschismus ist am Umgang mit dem Tagebuch der Anne Frank zu erkennen. Als Revisionisten anfingen, die Echtheit des Tagebuchs zu bezweifeln, wurde dies als Verhöhnung des Opfers angesehen. Schließlich mußten sich die Siegerhistoriographen dem Argument stellen, es sei eine Tinte mit einer nach dem Krieg stammenden chemischen Zusammensetzung verwendet worden. Zum Triumph über die Revisionisten stilisierte man, daß sich herausstellte, im Kern sei das Tagebuch echt, es seien „nur“ nachträgliche Zensureingriffe geschehen. Ganz nebensächlich erscheint eine Erkenntnis, daß vor allen Dingen Passagen mit Berichten über Auseinandersetzungen in der Familie und über ihre sexuellen Phantasien gestrichen worden sind.
So wird Anne Frank dreifach verhöhnt: durch die, die die Zweifel an der Echtheit ihres Tagebuchs in ihre Rechtfertigungsstrategie eingebaut haben – nicht die ursprünglichen Revisionisten - , durch die, die ihr Tagebuch einer typisch faschistoiden Zensur unterworfen haben, sowie durch die, die diese Zensur heute verharmlosen. Die Zensur war der erste Schritt.
259.
Halbe Moral. – Die Verunglimpfung der Revisionisten als Sympathisanten des Faschismus hat freilich auf die Gruppe zurückgewirkt. Einerseits machen viele Revisionisten inzwischen einen Bogen um das Thema des zweiten Weltkriegs im allgemeinen und des Holocaust im besonderen und wenden sich inneramerikanischen Fragestellungen zu, wie der Herausbildung des korporatistischen Staates und des politischen Kapitalismus. Andererseits haben Rechtfertiger sich des Holocaust-Revisionismus bemächtigt, die im Prinzip mit den ursprünglichen Absichten der Revisionisten nichts zu tun haben. Zu den wenigen, die nach wie vor das Gesamtpanorama des Revisionismus vertreten, gehört der Barnes-Schüler James J. Martin. Jedenfalls sind Autoren wie Nolte mit seiner klammheimlichen Rechtfertigung des Nationalsozialismus und Irving mit seiner offenen Parteinahme keine Revisionisten. Ziel des Revisionismus ist es nicht, die Verabscheuungswürdigkeiten des Nationalsozialismus herunterzuspielen, sondern zu zeigen, daß faschistische Strukturmerkmale wie Verstaatlichung des Kapitalismus, keynesianische Kriegswirtschaft, Ideologie der Kollektivschuld, Konzentrationslager und Euthanasie Kennzeichen aller kriegführenden Parteien waren und über den Krieg hinaus Bestand haben. Basiert die Internierung amerikanischer Staatsbürger japanischer Herkunft durch Roosevelt auf einer anderen Ideologie als diejenige deutscher Staatsbürger jüdischer Abstammung durch Hitler?
260.
Sich selbst im Wege stehen. – Die Revisionisten scheitern. Sie scheitern mit dem Versuch, die historischen Erfahrungen des ersten Weltkriegs vorausschauend auf die Politik ihres Landes im zweiten Weltkrieg anzuwenden. Dieser Versuch, der sie in seiner Einmaligkeit zu intellektuellen Helden machen müßte, ließ sie unter objektiven, geopolitischen Gesichtspunkten zu Helfern des Faschismus werden. Und die Revisionisten scheitern mit dem Ansinnen, die Siegerchronik des zweiten Weltkriegs einer historischen Kritik unterwerfen zu wollen. Denn sie läßt sich ihrer humanen Absichten entkleiden und in die Ideologie von Rechtfertigung einbauen.
Sie scheitern an sich selber. Sie lassen sich auf das ein, was sie ablehnen müßten. Ihre Analysen sind geopolitisch angelegt, und man kann es drehen und wenden, wie man will: Geopolitisch waren die Alliierten im Recht. Denn Geopolitik wird aus siegreichen Schlachten gemacht, und aus nichts anderem. Es gibt keine Vernunft der Nationen, sondern nur die bessere Ökonomie, die besseren Waffen, die besseren Kämpfer, die besseren Strategen. Die revisionistische Kritik müßte sich gegen das System der internationalen Politik selbst richten – das System des „perpetual war for perpetual peace“, wie es Beard nannte. Barnes hat aus dieser Formulierung den Titel zu seinem grundlegenden Werk über den zweiten Weltkrieg gemacht. Mit einer solchen Kritik jedoch läßt sich kein politischer Einfluß erlangen.