"Vielleicht ist es überhaupt nicht falsch, eine Darstellung der demokratischen Gesinnung mit Eugen Richter zu beginnen. [...], noch heute ist er eine Art manchesterliche Insel in einer anders gewordenen Welt. Es gibt Momente, wo er noch immer groß sein kann, Tage, an denen er den Liberalismus gegen die Reaktion vertritt. An solchen Tagen wird er Sprecher des besseren und freieren Teils des deutschen Volkes und wird, wie von selbst, zum Redner der gesamten Linken. [...] Ein solcher Tag läßt viele politische Sünden vergessen, aber er LÄSST DEN TRAURIGEN, JAMMERVOLLEN ZUSTAND NICHT VERSCHWINDEN, IN DEN DURCH EINE ZWECKLOSE, ZIELLOSE NEINSAGEREI OHNE POSITIVE IDEALE DER WAHRHAFT LIBERALE TEIL DES ALTEN BÜRGERLICHEN LIBERALISMUS GEKOMMEN IST. Eugen Richter vertritt in seiner Person die alte negative Demokratie. Er wird schwerlich noch anders werden, aber an ihm soll die Demokratie lernen, wohin eine Politik der bloßen Negation führt: zur politischenVersteinerung!" (Friedrich Naumann, Demokratie u. Kaisertum, erstmals erschienen 1900).
Robert Nef schrieb erst kürzlich wieder sehr treffend:
"Die Geschichte des Liberalismus ist eine Geschichte der problematischen Bündnisse, bei denen immer sehr viel liberale Substanz für relativ wenig politischen Einfluss eingetauscht wurde."
Der Naumannsche Geist der Verwässerung liberaler Prinzipien und der bedingungslosen Koalitionsbereitschaft nach allen Seiten hin setzte sich spätestens nach Eugen Richters Tod im Jahre 1906 durch. Alle Parteien des organisierten Liberalismus in Deutschland stehen bis auf den heutigen Tage in dieser Tradition. Zwei Fragen an die Vertreter jener Denkschule, denen das NEIN-Sagen so verächtlich ist, seien bei allem untertänigsten Respekt gestattet:
1.) Wieviele Abgeordnete der liberalen Parteien stimmten im Jahre 1914 im Deutschen Reichstag gegen die Bewilligung der Kredite zur Finanzierung des 1. Weltkriegs?
2.) Wieviele Abgeordnete der liberalen Parteien stimmten im Jahre 1933 im Deutschen Reichstag gegen Hitlers Ermächtigungsgesetz?
Die Antwort auf beide Fragen - nämlich NULL NEIN-SAGER - gibt die erschöpfende und präzise Auskunft über die Frage, ob der seit Naumann in deutschen Landen praktizierte pragmatisch-konformistisch-opportunistische Parteiliberalismus nicht jedes moralische Recht verwirkt hat, sich überhaupt noch liberal nennen dürfen, oder ob die Beanspruchung dieses Labels durch blau-gelbe Staazis nicht schon vielmehr an Blasphemie grenzt.