Parlamentswahlen (nach dem allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrecht) werden in der Regel als politische Stimmungsbarometer angesehen. Man hat sich gewöhnt, zu glauben, daß die ausgezählten Majoritäten die im Lande vorherrschenden positiven Gesinnungen spiegeln. Das ist eine Verkennung der Massenpsychologie. Der Psychologe darf bei der Beurteilung einer von vielen gemeinsam geführten Aktion die Stellung jedes einzelnen zu der ihn mitumfassenden Vielheit nicht übersehen. Er darf nicht vergessen, daß ein Ich, je dürftiger und nichtiger es dasteht, d. h. je größer die Majorität ist, der es zugehört, umsomehr das Bedürfnis fühlt, sich als Mitglied der Masse persönlich zu dokumentieren. Hat eine große Persönlichkeit den Drang, seine Seele im Rhythmus der Welt schwingen zu lassen, so sucht umgekehrt das Massenmenschchen den Radau des Alltagslebens, den es Welt nennt, auf seine spezielle Existenz zu beziehen, um sich als »Persönlichkeit« gefallen zu können. So und nicht anders ist die Massenneurasthenie zu erklären, die jede politische Bewegung hervorruft, und der Ausfall von Parlamentswahlen bietet somit in erster Reihe Interesse als statistisches Material für den Neurologen.
In welchem Prozentsatz sich die abgegebenen Stimmen auf die einzelnen Parteigruppen verteilen, ist psychologisch sehr belanglos. Majoritätsmensch ist nicht der nur, der zu den Wählern des endlich siegenden Kandidaten zählt, sondern jeder, der von seinem Stimmrecht Gebrauch macht; jeder also, der seine Meinung als maßgeblich für die Mehrheit ansehen möchte, weil er sie für so gut hält, daß sie ihm als Normalmeinung seiner Zeitgenossen geeignet erscheint. Das Prinzip der Wahl ist ein durchaus demokratisches Prinzip. Es hat die Tendenz, aus der Volksseele einen Diagonalwillen zu destillieren. Jeder Wähler erkennt mit der Ausübung seines Rechtes dieses Prinzip ausdrücklich an, das Prinzip der Berechtigung des Mehrheitswillens, das einzelne, selbständige Individuum zu unterdrücken, es den Beschlüssen der Majorität der aus der Majorisierung der Minoritäten hervorgegangenen Körperschaften gefügig zu machen, aus jeder Persönlichkeit eine Nummer im Gesamtbetriebe und aus jeder autonomen Regung eine Gefahr für das demokratische Ganze herzustellen.
Jeder Wähler ist ein Tröpfchen von dem Öl, das die große Staatsmaschine schmiert. Was er wählen darf, ist allein das Ölkännchen, aus dem er in das Räderwerk träufeln darf, und von dem je nach der Größe des Behälters ein Schuß mehr links oder ein Schuß mehr rechts in den Apparat gegossen wird, dessen Hauptwalze sicher und exakt funktioniert, unbeirrt darum, welche von den vielen kleinen Seitenrädchen sich etwas schneller und welche sich etwas langsamer um ihre Achse drehen. Die Stimmabgabe des einzelnen Wählers hat also für den Gang der Geschicke eines Volkes ebensoviel zu bedeuten, wie der Rauch einer Zigarre, der sich im weiten Raum einer Wolke beimischt, für den Niederschlag eines Gewitters.
Für den Psychologen sind alle Wähler konservativ. Sie haben ausnahmslos das Bestreben, in das Rädchen zu fließen, das dem mächtigen Staatsrad am schnellsten vorwärts hilft. Sie erkennen damit die Notwendigkeit des Bestehenden und den Wert seiner Erhaltung an. Im Gegensatz zur konservativen Partei steht ausschließlich die Gruppe der Nichtwähler, stehen die paar Individualisten, Anarchisten, Künstler und Skeptiker, die in der Staatswalze einen Apparat erkennen, die Persönlichkeit durch die Masse zu wälzen und in jedem ihrer Räder ein Instrument, die Individualität, deren ein Riemen habhaft werden kann, zu rädern. Sie sind revolutionär. Ihr negatives Verhalten bezweckt die Unbrauchbarmachung der ganzen Maschine, entweder dadurch, daß durch das Einrostenlassen aller Seitenräder die Mittelachse gezwungen wird, sich aus eigener Despotenkraft zu drehen – eine Betriebsform, die infolge der Vereinfachung des Werkes dem Individuum sehr viel weniger gefährlich ist, als die demokratische Versimpelungsfabrik –, oder durch die positive Aktion des Sabots, d. i. die gewaltsame Außerbetriebsetzung des Werks. Wirft man Seife in den Kessel, so platzt der Apparat, und seine Wirksamkeit ist vernichtet.
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Der Mittelmensch, der Bürger, der aus der Not seiner Wesensgleichheit mit all seinen Mitmassenmenschen eine Tugend herleitet, hat gleichwohl das starke, seelische Bedürfnis, sich persönlich zu dokumentieren. Das innerstempfundene Gefühl seiner eigenen Unwesentlichkeit, der letzten Endes auch im Nichtigsten schlummernde Drang nach Unsterblichkeit, der verborgene Trieb, irgendwie doch einen noch so verschwommenen Schatten zu werfen, drängt ihn ans Sonnenlicht. Aus diesem Triebe sind so viele Äußerungen zu verstehen, die dem kleinen Mann Vergnügen machen. Wird irgendwo ein Haus photographiert, gleich stehen eine Reihe guter Leute in Positur vor der Fassade, um mit aufs Bild zu kommen. Sie werden ihr Konterfei nie zu sehen kriegen, der Photograph und der Besitzer des Hauses, die es anschauen werden, werden nie erfahren, wer die Leutchen sind, deren Typen sie vor sich haben, werden sich auch nie Gedanken darüber machen – aber der Bürger fühlt eine Befriedigung, weil seine Physiognomie irgendwo festgehalten ist; seinem Unsterblichkeitsdrange ist – wenn auch noch so dürftig – Genüge geschehen. Ein noch beliebteres Mittel, seine Wesenheit in die Ewigkeit hinüberzuretten, ist das Anschreiben des Namens an Stellen, wo recht viele fremde Menschen ihn lesen werden, auf die Ruhebänke in gernbesuchten Parks, vor allem an Pissoirwände. Den Kommis und den Bäckergesellen, den Primaner und den Bücherrevisor überkommt ein Gefühl innerster Beruhigung, wenn er das Häuschen mit dem Bewußtsein verläßt, für seinen Nachruhm etwas getan und – sei es nur durch seinen Namenszug, sei es durch eine schweinische Zeichnung oder einen obszönen Vers – seiner tieferen Wesensart den Sprung in die Ewigkeit erleichtert zu haben. Jedenfalls hat er seiner Existenz einen weiteren Resonanzboden geschaffen, als sie auf korrektere Art gefunden hätte.
Mit diesem Phänomen rechnet die sozialdemokratische Parteileitung; muß sie rechnen um eine Massenbewegung hinter sich zu haben. Sie muß ihren Mitgliedern, grade weil sie sich zu einer die Persönlichkeit eliminierenden Tendenz bekennen sollen, die Gelegenheit bieten, sich persönlich wichtig zu machen. Mit welchem Stolz geht der Wähler zur Urne! Erfüllt er sein heiligstes Recht, alle fünf Jahre einmal einen Zettel mit dem Namen einer anderen Null feierlich zur Auszählung abzuliefern! Wie unentbehrlich kommt er sich vor! Sein Name steht in den Wahlregistern eingetragen, wird öffentlich aufgerufen; er kann selbst hervortreten, sich coram publico zu seinem Namen bekennen, kann sogar zwischen verschiedenen Zetteln, die ihm Weltanschauungen repräsentieren, aussuchen und kommt sich vor, als ob er am Steuerrad der Historie drehte. Die Befriedigung, die ihm das Bemalen der Abtrittwand erweckt, erfüllt sich beim Wahlakt potenziert.
Wer da glaubt, die ursprüngliche causa movens des Wählers sei politisches Interesse, sei die ernste Sorge um die Verwaltung des Vaterlandes, der irrt. Das Parteigefühl ist in fast allen Fällen erst nachträglich als Beweggrund zum Wählen eingeschoben. Aber soviel Selbstpsychologe ist der Staatsbürger nicht, um zu erkennen, daß er in der Wahrung seiner vornehmsten Rechte kleinlicher Eitelkeit folgt. Er konstruiert erst aus der Handlung, die er gern tut, das Motiv, das ihm diese Handlung erst recht weihevoll erscheinen läßt. Es geht ihm so wie Nietzsches bleichem Verbrecher, der den von ihm Ermordeten beraubt, um vor sich selbst einen Grund zum Mord zu haben. Der Ausfall der Wahl regt den Wähler kaum anders auf, als das Ende eines Wettrennens den, der auf ein bestimmtes Pferd gesetzt hat. Daß es sich bei dem Wettenden um Geld handelt, während sich der Wähler ideelle Interessen einbildet, macht keinen Unterschied. Denn erstens stehen alle Staatsbürgerideale auf materieller Grundlage und werden erst in der politischen Abstraktion ideell verklärt, und zweitens verquickt sich bei dem Startsetzer das Interesse an der riskierten Summe so sehr mit der Aufregung des Zuschauens, daß es sich zu einer wirklich begeisterten Spannung auswächst.
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Diese oft beobachteten, immer sich wiederholenden Tatsachen beweisen wohl, was ich oben behauptet habe: daß der Massenmensch nicht aus irgendwelchen materiellen, politischen oder ideellen Gründen wählt, sondern daß ihm das Wählen Selbstzweck ist. Der Anarchist, der das Wählen an sich angreift, verletzt sein Gefühl. Mit dem ist nicht zu debattieren; der ist ein Lump ... Dem Volke muß die Religion erhalten bleiben. Und dem Volke muß die Möglichkeit erhalten bleiben – oder geschaffen werden –, sich an Pissoirwänden und Wahlgefäßen zu manifestieren.
Quelle: Erich Mühsam – Zur Naturgeschichte des Wählers, aus: Die Fackel, Nr. 223-224, IX. Jahr, Wien 12. April 1907, S. 10ff.
2 comments:
Was für ein bösartiges Traktat!
Ja, schön bösartig. ;-)
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