Thursday, November 12, 2009

Die Sprache verrät die Denkweise

"Die Wortkombination ‘Selbstmord’ ist ein Musterbeispiel der Klasse von Ausdrücken, die suggerieren, es handele sich um etwas Böses (Aristoteles Nicomachische Ethik). Genau besehen ist es der Ausdruck einer Anmaßung von Unwissen: man gibt vor, den Unterschied zwischen "Mord" und "Freitod" nicht zu kennen. Sich selbst zu ermorden, ist nämlich genau so logisch unmöglich wie Ehebruch mit seiner eigenen Frau zu begehen. Der semantische Unfug ‘Selbstmord’ scheint eine deutsche Spezialität zu sein, denn der Ausdruck läßt sich gar nicht wörtlich übersetzen. Im Englischen würde die Wortbildung, ‘self-murder’ verlacht werden, und Analoges gilt von den romanischen Sprachen. Im Englischen ist ‘Suicide’durch das Lateinische neutralisiert, und ‘to suicide’ als intransitives Verb ist völlig neutral."
- Prof. Dr. Gerard Radnitzky

4 comments:

Popeye said...

Ich finde den Begriff Selbstmord sehr passend, wenn man sich wie im Fall Robert Enke von einem anderen Menschen (gegen dessen Willen) ermorden lässt.

LePenseur said...

@Popeye:
Treffender Einwand.

@Dominik Hennig:
Der Ausflug ins Englische ist nett, aber besagt wenig, denn viele Ausdrücke lassen sich in eine andere Sprache nur mit Verrenkungen übersetzen. "Gemütlich" existiert auf Englisch einfach nicht, ebensowenig "fair" auf Deutsch. "Self-murder" ist dem Engländer so lächerlich, wie es das im Englischen sprichwörtliche Regnen von Hunden und Katzen für den Deutschen wäre.

Der semantische Unfug ‘Selbstmord’ scheint eine deutsche Spezialität zu sein
meinen Sie. Nun, das ist ein Irrtum, denn das spätlateinische "suicidium", welches aus dem schon klassischen Begriff "homicidium" (= Mord bzw. Totschlag — diese Tatbestände wurden früher nicht so streng unterschieden, Totschlag heißt übrigens in der deutschen und österreichischen Rechtssprache auch heute noch etwas anderes!) analog gebildet wurde, also eigentlich korrekt mit "Selbstmord" bzw. "Selbsttotschlag" zu übersetzen ist. Daß im englischen Sprachbereich das Fremdwort mittlerweile im ursprünglichen Sinne gar nicht mehr verstanden wird — nun, das belegt, daß die Abschaffung des Lateinunterrichts im höheren Schulwesen nicht gerade bildungsfördernd gewirkt hat.

Noch zum "Freitod" eine Anmerkung: leider ist auch dieser Begriff durch ein "Vor-Urteil" gekennzeichnet — daß nämlich der auf diese Weise aus dem Leben Geschiedene dies "freiwillig" gemacht hat. "Jeder gelungene Selbstmord ist ein mißlungener Selbstmordversuch", meinte einmal ein Psychologe. Obwohl ich das in dieser Apodiktik auch nicht so behaupten wollte — aber es beleuchtet wohl das Problem, daß viele (vielleicht sogar die meisten) Selbstmorde in der uneingestandenen Hoffnung, doch noch rechtzeitig gefunden zu werden, geschehen.

Und von denen, die offenbar wirklich nicht gerettet werden wollen (z.B. indem sie sich vor den Zug werfen oder eine Kugel durch den Kopf jagen) — wie viele von ihnen sind da wirklich so "freiwillig" in ihrer Entscheidung, wie uns der Begriff "Freitod" suggerieren will?

Sicher — es wird ein paar Stoiker geben, die nach der medizinisch gesicherten Mitteilung, an einer unheilbaren, schmerzhaften Erkrankung zu leiden, den rationalen und freien Entschluß fassen, ihr Leben im Falle peinigender Schmerzen selbst zu beenden. Doch auf wie viele Fälle trifft das zu? Ich denke: auf einige Prozent der tatsächlich vorgenommenen Selbsttötungen.

Und hier habe ich auch schon das m.E. zutreffendste Wort genannt: "Selbsttötung". Wenn man schon das althergebrachte Wort "Selbstmord" unbedingt ersetzen will (ich bin kein Freund des Sprach-Ingenieurswesens — nur zu bald landet man bei den unsäglichen "Innen" & Co.!) — hier wird keine Unterstellung, weder über eine sittliche Verwerflichkeit oder über die Freiwilligkeit des Tuns, getroffen: "Selbsttötung" ist absolut neutral.

Anonymous said...

Das stimmt nicht ganz. "Mord" nennt man es nämlich nicht nur in Deutschland sondern zum Beispiel in den nordischen Ländern.
An anderer Stelle hat LePenseur recht. Den Sprachingenieuren der Welt muss man nicht immer folgen. Das will hier aber keiner. Es etabliert sich, ganz ohne Zwang, inzwischen geprägt von Fachdebatten und Betroffenenorganisationen, der Begriff Suizid mit noch leichter Konkurrent zu "Selbsttötung".

Anonymous said...

Erstaunlich, wie viele Antilibertäre, Roundheads, Gotteskrieger und Mucker hier lesen und frech kommentieren. An Hennigs Stelle würde ich den Dreck öfters mal löschen!