Tuesday, December 04, 2007

Aus aktuellem Anlaß: Ludwig von Mises zum Mindestlohn

Aus Ludwig von Mises' Schrift "Kritik des Interventionismus":


Nehmen wir noch ein Beispiel: den Mindestlohn, die Lohntaxe. Es ist dabei ohne Belang, ob die Obrigkeit selbst die Lohntaxe unmittelbar verfügt oder ob sie duldet, daß die Gewerkschaften unter Androhung oder Anwendung von physischem Zwang es dem Unternehmer unmöglich machen, Arbeiter einzustellen, die für einen niedrigeren Lohn arbeiten wollten 1). Mit den Löhnen müssen die Produktionskosten und damit auch die Preise steigen. Würden als Verbraucher (als Käufer der Endprodukte) nur Lohnempfänger in Betracht kommen, dann würden auf diesem Wege Erhöhungen des Reallohnes undenkbar sein. Was die Arbeiter als Lohnempfänger gewinnen, müßten sie als Konsumenten verlieren. Nun gibt es aber neben den Konsumenten, die Lohnempfänger sind, auch solche, deren Einkommen aus Besitz und aus Unternehmertätigkeit fließt. Deren Einkommen wird durch die Lohnerhöhung nicht erhöht; sie können die erhöhten Preise nicht bezahlen und müssen ihren Verbrauch einschränken. Der Rückgang des Absatzes führt zu Arbeiterentlassungen. Wäre der Zwang der Gewerkschaften nicht wirksam, dann müßte der Druck, den die Arbeitslosen auf den Markt ausüben, den künstlich in die Höhe getriebenen Lohn wieder auf den natürlichen Marktsatz herabdrücken. Nun aber gibt es diesen Ausweg nicht mehr. Die Arbeitslosigkeit – in der unbehinderten kapitalistischen Gesellschaftsordnung eine Friktionserscheinung, die immer wieder verschwindet – wird im Interventionismus zur ständigen Einrichtung.


Die Obrigkeit, die diesen Zustand ja nicht wollte, muß also wieder eingreifen. Sie zwingt die Unternehmer, entweder die entlassenen Arbeiter wieder einzustellen und zu dem vorgeschriebenen Satz zu entlohnen oder Abgaben zu leisten, von deren Ertrag an die Arbeitslosen Unterstützungen gezahlt werden. Durch diese Belastung wird das Einkommen der Besitzer und der Unternehmer aufgezehrt oder doch stark vermindert; es ist sogar nicht unberecht-igt, anzunehmen, daß die Last von den Unternehmern und Besitzern nicht mehr aus dem Einkommen getragen werden kann, sondern nur aus dem Vermögensstamm. Aber selbst wenn wir nur damit rechnen wollten, daß das nicht aus Lohnarbeit herrührende Einkommen durch diese Lasten erschöpft wird, ohne daß schon zu ihrer Bestreitung Kapital angegriffen werden müßte, erkennen wir, daß es zu Kapitalsaufzehrung kommen muß. Kapitalisten und Unternehmer wollen auch leben und konsumieren, wenn sie kein Einkommen erzielt haben; sie werden dann Kapital aufzehren. Es ist eben – in dem Sinne, von dem wir oben sprachen – zweck- und sinnwidrig, den Unternehmern, Kapitalisten und Grundbesitzern das Einkommen zu nehmen und ihnen die Verfügung über die Produktionsmittel zu belassen; daß Kapitalsaufzehrung schließlich die Löhne wieder herabdrücken muß, ist klar. Will man die Lohnbildung des Marktes nicht hinnehmen, dann muß man das ganze System des Sondereigentums beseitigen; durch Lohntaxen kann man das Lohnniveau nur vorübergehend und nur um den Preis künftiger Lohnreduktionen heben.


Das Problem der Lohntaxen hat für die Gegenwart so ungeheure Bedeutung, daß wir es noch an einem zweiten Schema erörtern müssen, das die Verhältnisse des internationalen Güteraustausches berücksichtigt. Zwei Länder, Atlantis und Thule, stehen im wechselseitigen Güteraustausch. Atlantis liefert Industrieerzeugnisse, Thule Bodenfrüchte. Nun findet Thule – man verehrt dort List – es für notwendig, eine eigene Industrie durch Schutzzölle ins Leben zu rufen. Der Enderfolg der (durch den Schutzzoll künstlich bewirkten) Industrialisierung Thules muß der sein, daß nun weniger Industrieprodukte aus Atlantis bezogen, dagegen aber auch weniger Bodenerzeugnisse nach Atlantis geliefert werden. Beide Länder befriedigen ihre Bedürfnisse nun in höherem Maße unmittelbar durch die inländische Erzeugung, wobei freilich, weil nun unter weniger günstigen Bedingungen produziert wird, das Sozialprodukt kleiner ist als früher.

Zu diesem Endergebnis kommt es auf folgendem Wege: Auf die Zollbelastung ihrer Produkte in Thule antwortet die atlantische Industrie durch Herabsetzung der Löhne. Doch es ist nicht möglich, die ganze Zollbelastung durch Lohnreduktion wettzumachen. Denn in dem Augenblicke, in dem die Löhne zu sinken beginnen, wird für die Urproduktion die Erweiterung des Anbaus rentabel. Anderseits wird der Rückgang des Absatzes der thuleanischen Bodenerzeugnis-se in Atlantis den Lohn in der Urproduktion in Thule senken und der Industrie Thules die Möglichkeit bieten, mit Hilfe der verbilligten Arbeitskraft der atlantischen Industrie Konkurrenz zu machen. Daß – neben dem Rückgange des Ertrages der in der Industrie von Atlantis investierten Kapitalien und der Grundrente in Thule – in beiden Ländern auch der Arbeitslohn sinken muß, leuchtet ohne weiteres ein. Dem Rückgang des Sozialprodukts entspricht die Schmälerung des Einkommens.

Nun aber ist Atlantis ein »sozialer« Staat. Die Gewerkschaften verhindern die Ermäßigung der Löhne. Die Produktionskosten der atlantischen Industrie bleiben daher so hoch, wie sie vor Ein-führung des Zolles in Thule waren. Doch da der Absatz in Thule zurückgeht, muß es in Atlantis zu Arbeiterentlassungen in der Industrie kommen. Das Abströmen der Entlassenen in die Land-wirtschaft wird durch Arbeitslosenunterstützungen verhindert. So wird die Arbeitslosigkeit zu einer dauernden Einrichtung 2).

Englands ausländischer Kohlenabsatz ist zurückgegangen. Soweit die dadurch überzählig gewordenen Bergleute nicht abwandern dürfen, weil man sie in anderen Ländern nicht aufnehmen will, müssen sie in jene englischen Produktionszweige übergeleitet werden, die ihre Produktion erweitern, um den Ausfall, der durch den Rückgang der Ausfuhr in der Einfuhr entstehen muß, zu bedecken. Der Weg, auf dem es zu diesem Ergebnis kommt, ist die Lohnsenkung im Kohlenbergbau. Gewerkschaftliche Lohnbildung und Arbeitslosenunterstützung hemmen diesen unausweichlichen Prozeß wenn auch für Jahre, so doch nur vorübergehend. Denn endlich muß das Ergebnis der Rückbildung der internationalen Arbeitsteilung eine Senkung der Lebenshaltung der Massen sein, und diese Senkung wird um so größer sein, je mehr Kapital in der Zwischenzeit durch die »soziale« Intervention aufgezehrt wurde. Die Industrie Österreichs leidet darunter, daß in den Ländern, die ihr Absatzgebiet bilden, immerfort die Zölle erhöht und andere Hindernisse (z. B. durch die Devisenpolitik) der Einfuhr neu entgegengestellt werden. Sie kann auf Zollerhöhungen – wenn ihr nicht die Steuern ermäßigt werden – nur durch Herabsetzung der Löhne antworten. Alle anderen Produktionsfaktoren sind unbeweglich. Rohstoffe und Halbfabrikate müssen auf dem Weltmarkte eingekauft werden, Unternehmergewinn und Kapitalzins müssen – in Österreich ist ausländisches Kapital in stärkerem Maße investiert als österreichisches Kapital im Auslande – den Verhältnissen des Weltmarktes entsprechen. Nur der Lohn ist national bedingt, weil Abwanderung der Arbeiter in größerem Umfang - infolge der »sozialen« Politik des Auslandes – unmöglich ist. Nur der Lohn könnte daher sinken. Die Politik, die den Lohn künstlich hoch hält und Arbeitslosenunterstützungen gewährt, schafft nur Arbeitslosigkeit.

Es ist unsinnig, aus der Tatsache, daß die Löhne in den Vereinigten Staaten höher sind als in Europa, zu folgern, daß man die europäischen Löhne erhöhen muß. Würden die Einwanderungsbeschränkungen in den Vereinigten Staaten, in Australien usf. fallen, dann könnten europäische Arbeiter abwandern, wodurch dann allmählich eine internationale Angleichung des Lohnniveaus angebahnt werden könnte.

Die Arbeitslosigkeit von Hunderttausenden und Millionen als Dauererscheinung auf der einen Seite und die Kapitalaufzehrung auf der andern Seite sind die Folgen des Interventionismus: der künstlichen Hochhaltung der Löhne durch die Gewerkschaften und der Arbeitslosenunterstützung.


1 Man beachte, daß es sich hier nicht um das Problem handelt, ob durch den gewerkschaftlichen Zusammenschluß der Arbeiter eine dauernde und allgemeine Hebung des Lohnniveaus erreicht werden kann, sondern darum, welche Wirkungen die durch die Anwendung physischen Zwanges künstlich erreichte allgemeine Lohnerhöhung haben muß. Um die geldtheoretische Schwierigkeit, daß eine allgemeine Preissteigerung ohne Verschiebung des Verhältnisses zwischen Geldvorrat und Geldbedarf unmöglich ist, kommt man durch die Annahme herum, daß gleichlaufend mit der Erhöhung der Löhne eine entsprechende Verminderung des Geldbedarfes durch Herabsetzung der Kassenhaltung (z. B. im Gefolge einer Vermehrung der Lohnauszahlungstermine) vor sich geht.

2 Darüber, inwieweit durch den gewerkschaftlichen Zusammenschluß der Arbeiter der Lohn vorübergehend gehoben werden kann, vgl. meinen Aufsatz: Die allgemeine Teuerung im Lichte der theoretischen Nationalökonomie im XXXVII. Band dieses Archivs, S. 570 f. – Über die Ursachen der Arbeitslosigkeit vgl. C. A. Verrijn Stuart, Die heutige Arbeitslosigkeit im Lichte der Weltwirtschaftslage, Jena 1922, S. 1 ff.; Robbins, Wages, London 1926, S. 58 ff.
Interventionismus.

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