„Um „negative Freiheit“ geht es nach Isaiah Berlin im Zusammenhang mit der Frage, auf welchem Gebiet ein Mensch frei sein soll, das zu tun oder zu sein, was er tun oder sein kann, ohne von anderen Menschen daran gehindert zu werden. Negative Freiheit ist in diesem Sinne negativ, weil der Begriff eine Abwehr formuliert: Es geht um die Abwesenheit von Zwang. Bei Zwang handelt es sich nicht um schlichte – beispielsweise – ökonomische Sachzwänge, sondern um eine bewusste Willensunterwerfung. […] Der Begriff der negativen Freiheit führt somit zu politischen Theorien, in denen es vor allem um die Eingrenzung der Sphäre geht, in der eine Regierung in das Leben des einzelnen Menschen eingreifen darf. Der Begriff der positiven Freiheit ist nicht so zurückhaltend. […] Vor allem mündet er in eine Theorie der politischen Teilhabe – aber ohne die Abgrenzung
von Sphären, in denen das Individuum auch durch eine Mehrheit nicht bevormundet werden darf. Dann aber stehen den Sozialingenieuren, die aktiv die Gesellschaft nach ihrer Wunschvorstellung formen wollen, alle Wege offen.“
Berlins Dichotomie gehört also fraglos zum Kernbestand stringenten und unverwässerten Liberalismus und ist insoweit sicherlich verdienstvoll. Dennoch ist eben auch seine Definition der "negativen Freiheit" wenn man sie etwas genauer unter die Lupe nimmt, zu schwammig und unpräzise um ihn gegenüber Angriffen von den allein durch geschichtliche Tatsachen kaum zu widerlegenden Evangelisten der "positiven Freiheit" (den "Sozialisten in allen Parteien", wie Hayek gesagt hätte) mit der nötigen Robustheit auszustatten. Die begriffliche Unschärfe bei Berlin führt dazu, daß er in sein Gegenteil verkehrt werden kann und damit nicht mehr der Sache der Freiheit dient sondern den Feinden derselben als Kampfinstrument in die Hände fällt. Berlins Definition der Freiheit als das "Fehlen von Hindernissen, die nicht nur meinen aktuellen, sondern auch meinen potentiellen Wahlentscheidungen im Wege wären" (und zwar von Hindernissen, die durch "veränderbares menschliches Handeln" hervorgerufen werden) kommt der gefährlichen Gleichsetzung von "Freiheit" und "Handlungsmöglichkeit" bedenklich nahe, zumal sich sein Begriff von der Freiheit im Verlaufe seiner Argumentation in Richtung "Chancenmaximierung" und "Chance zum Handeln" verschiebt.
Für Murray N. Rothbard (1926 – 1995, siehe Bild), der sich in seiner Ethik der Freiheit (S. 217 ff.) eingehender mit Berlins Theorie der negativen Freiheit auseinandergesetzt hat, besteht dessen grundlegender Fehler darin, "negative Freiheit nicht als Abwesenheit physischer Eingriffe in Person und Eigentum – die weitgefaßten gerechten Eigentumsrechte – eines Individuums zu definieren."
Rothbard gibt ein anschauliches Beispiel für die notwendige Unterscheidung von Freiheit und Handlungsmöglichkeit:
„Nehmen wir etwa an, daß X sich weigert, Y einzustellen, weil Y ein Rotschopf ist und X keine Rothaarigen mag. X verringert damit sicherlich Y’s Möglichkeitsbereich, aber man kann wohl kaum von ihm sagen, daß er Y’s „Freiheit“ verletze.“
Und in einer Fußnote fügt er hinzu:
„Wenn man zudem X verbieten sollte, sich zu weigern, Y wegen seiner roten Haare anzustellen, so hätte man die Handlung von X durch veränderbares menschliches Handeln behindert. Das Aufheben von Hindernissen kann daher nach Berlins Freiheitsdefinition die Freiheit nicht erhöhen. Es kann lediglich die Freiheit einiger Leute zu Lasten anderer erhöhen.“
Rothbards Kritik zielt vor allem auf die fatalen wirtschaftstheoretischen Konsequenzen dieser begrifflichen Unschärfe und mangelnden Stringenz, die er bei Berlin feststellt:
„Da er nicht auf diese Definition kam, verfiel Berlin in Irrtümer und endete damit, gerade jene negative Freiheit, die er zu begründen versucht hatte, praktisch aufzugeben und wohl oder übel ins Lager der „positiven Freiheit“ zu wechseln. Mehr noch: Da ihn seine Kritiker mit der Beschuldigung geißelten, er unterstütze Laissez-faire, sah sich Berlin zu ausgelassenen und widersprüchlichen Angriffen auf Laissez-faire als etwas, das irgendwie der negativen Freiheit schadete, veranlaßt. Zum Beispiel schreibt er, daß die „Übel des ungehinderten laissez-faire […] zu brutalsten Verstößen gegen die ‚negative Freiheit’ führten […] auch gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Versammlungsfreiheit […]“. Da Laissez-faire nichts anderes bedeutet als die vollkommene Freiheit von Person und Eigentum, natürlich einschließlich der Ausdrucks- und Versammlungsfreiheit als Untergruppe privater Eigentumsrechte, ist Berlin hier dem Unsinn verfallen. Ähnlich falsch schreibt Berlin „über das Schicksal der individuellen Freiheit unter der Vorherrschaft des ungehemmten ökonomischen Individualismus […] – über das Elend der großen Mehrheit vor allem in den Städten, deren Kinder in Gruben und Fabriken zugrundegerichtet wurden, während die Eltern in Armut, Krankheit und Unwissenheit lebten, in einer Lage, in der es bloßer Hohn war, wenn ihnen versichert wurde […], die sie hätten das Recht, ihr Geld nach eigenem Gutdünken auszugeben und sich nach Belieben zu bilden.“ Es überrascht nicht, daß Berlin dann solche reinen und folgerichtigen Laissez-faire-Liberalen wie Cobden und Spencer für die Irrtümer und Widersprüche von klassischen Liberalen wie Mill und de Tocqueville angreift.
Es gibt einige schwerwiegende und grundlegende Probleme in Berlins Herumwettern. Eines ist die vollkommene Unkenntnis der modernen Historiker der industriellen Revolution wie Ashton, Hayek, Hutt und Hartwell, die gezeigt haben, daß die neue Industrie die vorherige Armut und Hungersnot der Arbeiter – einschließlich der arbeitenden Kinder – eher linderte als das Gegenteil zu bewirken. Doch auch auf einer begrifflichen Ebene gibt es schwere Probleme. Erstens ist es unsinnig und widersprüchlich, zu behaupten, daß Laissez-faire bzw. wirtschaftlicher Individualismus der persönlichen Freiheit geschadet haben könnte; und zweitens gibt Berlin in der Tat den Begriff der „negativen“ Freiheit zugunsten von Begriffen positiver Macht bzw. positiven Reichtums ausdrücklich auf.
Berlin erreicht den Höhepunkt (oder auch Tiefpunkt) dieses Ansatzes, wenn er die negative Freiheit unmittelbar dafür angreift, daß sie dazu diente, „den starken, den Brutalen, Skrupellosen die Oberhand über die Menschenfreundlichen und Schwachen [zu geben] […] Freiheit der Wölfe bedeutet oft genug den Tod der Schafe. Daß die Geschichte des ökonomischen Individualismus und der schrankenlosen kapitalistischen Konkurrenz eine blutige war, muß […] heute nicht eigens betont werden.“ Berlins entscheidender Fehler besteht darin, Freiheit und die freie Marktwirtschaft hartnäckig mit ihrem Gegenteil, mit nötigenden Übergriffen gleichzusetzen. Man beachte den wiederholten Gebrauch solcher Ausdrücke wie „Oberhand“, „brutal“, „Wölfe und Schafe“ und „blutig“, die allesamt nur bei nötigenden Übergriffen, wie sie allgemein vom Staat ausgingen, Anwendung finden. Ungehemmter wirtschaftlicher Individualismus führte dagegen zu friedlichem und einträchtigem Tausch, der wohlweislich gerade den „Schwachen“ und „Schafen“ zugute kam. Letztere sind es, die unter dem Dschungelgesetz des Staates nicht überleben könnten, aber den größten Teil der Wohltaten der freien Konkurrenzwirtschaft auf sich vereinigen. Eine auch nur geringe Kenntnis der Wirtschaftswissenschaft und insbesondere des Ricardianischen Gesetzes der komparativen Vorteile hätte Sir Isaiahs Meinung über diese lebenswichtige Frage zurechtgerückt.“
Weiterführende Literatur:
Murray N. Rothbard: "Die Ethik der Freiheit" , Sankt Augustin, Academia Verlag, 2000
Isaiah Berlin: "Freiheit – Vier Versuche" , Frankfurt/M., S.Fischer Verlag, 1995
Isaiah Berlin: "Two Concepts of Liberty", Oxford, Oxford University Press, 1958
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